Eingeschlossen in die Zeit In den Augenblick In das Pochen Des Blutes 

 

 

NACHTFLUG INVASOR presents

 

DIE VERHÖRE DES INVASOR

Friederike Biebl & Anne Rechlin im Gespräch mit dem Autor/Dramatiker & Theatermacher paul m waschkau

 

über >> 1) Die Geburt des INVASOR # 2) RADIO + INVASOR  3) Schreiben & Reisen  4) TextSezierungen oder Der Lahm der Lesungen 5) INVASORteatr

6)pmw der DRAMATIKER + Hyänenherz 7) STIL & INSZENIERUNG  8) ARTAUD  9) Die Ozeanische Nacht–ein titanischer Traum  10) Grenzen 11) Kollegen

 

 

DAS VERHÖR wurde - durch einen kunstbiographischen INTROtrailer, Soundeinspielungen wie exemplarische HÖRdokus erweitert – ausgestrahlt in der Sendung NACHTFLUG INVASOR # GESCHOSSE IN DIE ZEIT am 19.10.2009 im HerbstRadio auf Ukw 99,1 MHz____FM BERLIN, hier in einer redigierten LESEfassung.

 

#

 

1.

PAUL M Waschkau! Kommen wir gleich zur Sache!  Wir haben in der Sendung „INVASOR kompakt“ am 4.0ktober im HerbstRadio bei mikroFM bereits ansatzweise über Deine Künstlerische Arbeit und Präsenz in der Spielstätte theaterkapelle Berlin/F’hain gesprochen. Vieles konnte nur angerissen werden, einiges ist auf der Strecke geblieben. Trotzdem wollen wir heute auch über dich als Autor und Dramatiker reden. Allerdings düsen wir im NACHTFLUG INVASOR durch die Zeit. Wie ist es überhaupt zur Gründung von INVASOR gekommen? Und wie würdest INVASOR kurz umschreiben.

 

Kurz ist INVASOR eine aus Dichter/Autor-  wie Schauspieler/ Performer- & FilmemacherIn­nen bestehende offene KUNSTFORMATION mit Projektilformen aller Genres unter meiner künstlerischen Leitung .  Gegründet 2006 im Berliner GARNTHEATER, wo ich zusammen mit Adolfo Assor die erste aus nervösen Le­sungen,  performativen Textse­zierun­gen und experimentellen FILMnächten komponierte INVASORSerie startete, die wöchentlich stattfand und immerhin 3 Monate andauerte. Dafür war es ganz wunderbar, daß der aus Chile stammende Schauspieler und Regisseur Adolfo Assor selbst mehrere Abende gestaltete.

Der Ursprung liegt aber in Peru, wo ich im Jahre 2000 als aus Berlin stammender Dichter/Dramatiker mit der textsezierenden Performance „En la noche del polo norte“ ‚ IN DER NACHT DES NORDPOLS am Festival „terreno de experiencia no. uno“ ( = Experimentierfeld Nr.1 )  in LIMA teilnahm.

Die junge Festivalsleitung wie ein INVASOR ein Museum besetzt und gab unter dem Titel INVASOR alle 2 Tage eine als Kunstflugblatt gestaltete Zeitung heraus, in der ua auch Teile meines Schauerfeldfragmentes DIE GALEERE DER KALTBLÜTER auf spanisch erschien. Das war damals in der politischen ENDphase einer sehr rigiden konservativen Fujimori_regierung in Peru nicht ganz ungefährlich, aber Fujimori war schon auf der Flucht. Für die junge Kunstszene Perus war das ein ganz neuer Anfang, etwas völlig Neuartiges und daher auch unglaublich gut besucht.

 

Du hast also INVASOR über den Atlantik transportiert, um die Idee wie den Titel in Berlin fortzuführen.

 

Exakt. Mir gefiel diese auf dem INVASORfestival von LIMA fixierte Idee des invasorischen EINFALLens in eine fremde Szene. Außerdem hatten die FLUGblätter markige Sprüche auf Lager, die geradezu dazu aufforderten, sich nicht unterkriegen zu lassen.

 

Mit welchen Parolen haben die Menschen damals in Peru für einen neuen Anfang

– sowohl künstlerisch als auch politisch – aufgerufen?

 

Si todo es possible pidamos lo impossibile!

Wenn alles möglich ist - verlangen wir das Unmögliche!

 

Wieso im GARNtheater mit Adolfo Assor?

 

Adolfo Assor gefiel natürlich der Titel.  INVASOR INVASOR. Das kommt aus seinem spanischem Sprachraum. Außerdem brauchte sein etwas absackendes GARNtheater frisches Blut. Und schließlich kannten wir uns schon seit den 90iger Jahren, als Adolfo Assor es wagte, mich als ersten deutschsprachig lebenden Dramatiker in seinem GARNtheater mit der UA von DIE GALEERE DER KALTBLÜTER vorzustellen. Das war für ihn ganz großes Wagnis, obgleich dieses düster monologisch angelegte Schauerfeldfragment fast wie für ihn geschrieben schien. Tatsächlich kannte ich zu dieser Zeit in Berlin niemanden, der es hätte spielen können. Doch dann wurde DIE GALEERE DER KALTBLÜTER  44 x gespielt, die ersten 20-30 Mal stets vor ausverkauftem Haus bzw. ausverkauftem Keller, diesem tiefen tiefen Keller, in dem Adolfo Assor sein GARNtheater in Kreuzberg seit über 20 Jahren bespielt.

 

 

2.

In der theaterkapelle hast du als Autor/Dramatiker wie als Theatermacher mit der FORMATION INVASOR von 2007-2009 neben literarisch/performativen Einzelveranstaltungen, der Performance.Installation SEVEN LOST SCENES (2008) sowie dem  ARTAUD.KONGRESS (2009) – auch 3 große mehrsprachige TheaterInszenierungen zur URaufführung gebracht. Nun ist INVASOR allwöchentlich mit einer wort- wie soundmäßig anspruchsvollen NACHTFLUGsendung im Herbst.Radio auf 99,1 MHz° FM Berlin unterwegs? Wie kommt das?

 

Das erscheint mir persönlich gar nicht zufällig, sondern fast zwangsläufig. Und beamt mich zeitlich ins Jahr 1989 zurück, ins damals FREIE RADIO 100, wo meine erste mit 10 SprecherInnen dirigierte HörspielKompositionen DIE ENGE DER ZEIT IST DIE WURZEL DES BÖSEN ausgestrahlt wurde. Eine äußerst komplexe Komposition mit Textschnitten, Fragmenten, Cutups , Interviews zB mit Paul Virilio, Francois Lyotard, Dietmar Kamper aus der von mir damals herausgegebenen Literatur- & Philosophiezeitschrift MINERVA. Es hat aber wesentlich mit ANTONIN ARTAUD zu tun, denn die von mir mit dem Musiker Wolfram Hasch arrangierte auf ARTAUDtexturen basierende HörspielKomposition  DIE FRAGE STELLT SICH ... La question se pose...   war 2006 in der Hörspielreihe des  radio tesla zu Gast, den heutigen Machern von mikroFM, die mich quasi eingeschleust haben.

 

Somit ist Artaud verantwortlich für die RadioNACHTFLUGserie des INVASOR?

 

Absolut. Und gleichzeitig umreißt es die Komplexität der gänzlich offenen KUNSTFORMATION INVASOR, denn wir sind hier im HerbstRadio ja 3 Monate mit hoch artifiziellen HörspielKompositionen, poetischen Lesungen wie Pamphleten, SoundLandschaften und experimentell arrangierten Disharmonischen Epidemien auf Sendung, die man nicht einfach aus dem Stand produzieren kann.

 

INVASOR ist also vielmehr als ein theatrales Ensemble?

 

Das theatralisch Dramatische ist nur ein Zweig, wenngleich auch ein von hoher Intensität geprägter. Ansonsten aber ist INVASOR eine Art Künstlerischer Überbau, unter dessen Dach allerdings nur ganz spezielle Ghostrider und Psychopathen Platz haben, deren Werke wie GESCHOSSE IN DIE ZEIT daherkommen. Das hat nicht nur der ARTAUD KONGRESS bewiesen, sondern auch die Beteiligung des INVASOR an der Ausstellung DEPRESSIONISMUS & METROPLENIRRE. Eine Ausstellung mit Nebenprogramm, die vom Künstler Schädelwaldt im BÜRO DER DEPRESSIONISTEN kuratiert war.  Aber manchmal bin ich DER INVASOR ganz allein.

3.

Das gäbe uns die Möglichkeit, über dich als Autor zu sprechen, zumindest ansatzweise.  Es gibt zwei Bücher von dir. Da ist zum einen das 1999 erschienene romantische Fragment: „archangelsk/träume aus titan“ und der 2007 erschienene Roman EXIT.49.

Mich interessieren – im Groben - die inhaltlichen wie konzeptionellen Verbindungsstränge deiner Romane/ Bücher/ Prosafragmente zum Dramatischen wie der Einfluss deiner Reisen/Auslandsaufenthalte auf die literarische Arbeit.

 

Das ist in der Tat ein weites Feld und womöglich muss ich selbst ein zwei – von mehreren möglichen - Theorien entwerfen, um die Vernetzung des Ganzen zu begreifen. Ich meine die Vernetzung von Leben und Schreiben, die Vernetzung von Prosa & Poesie mit dramatischen Texturen, die Vernetzung von Theater und Öffentlichkeit, die Vernetzung von Dichtung und Wahrheit. Also all die Grundlagen und Vorraussetzungen, Bedingungen, der Antrieb und die Lust.  Das Eingeschlossen sein in die Zeit, in den Augenblick, in das Pochen des Blutes...

 

Mmmmmhhh.... Das ist mir zu theoretisch. Also konkret....  in welchen deiner Texte sieht man

den Einfluss deiner Reisen wie deiner langen Auslandsaufenthalte mit Schwerpunkt Mexiko und Südamerika am besten?

 

Beide Bücher, sowohl das romantische Fragment archangelsk/träume aus titan wie der EXIT.49_roman umkreisen in großen Bewegungen das Reisen und sind von großen oftmals surrealen Erinnerungspassagen an Landschaften Geschehnisse Menschen in fernen Ländern geprägt. Dabei spielt neben Mexiko, was zumindest geographisch hauptsächlich zu Nordamerika zählt, der Einfluss Südamerikas eine ungemeine Rolle. Ich bin dort seit 1990 in regelmäßigen Abständen gewesen, weil die Menschen und die riesigen menschenleeren Regionen mich dermaßen inspiriert, fasziniert und bezaubert haben, daß sie fast zum Elixier meines Schreibens wurden, was ich in Berlin sehr vermisse.

 

Das Reisen also als Bedingung deines poetischen Schreibens?

 

Vielleicht sogar meines künstlerischen Schaffens, weil es sowohl den Blick auf das persönliche wie das Heimliche verschärft. Aber wichtig ist das alleinige Unterwegssein. Mir reicht auch ein guter Lebensraum an einem fernen exotischen Ort. Aber das muss man erst mal begreifen. Dann kann man die Situation benutzen und wenn sie sich bietet, muss man zugreifen.

 

In beiden Büchern gibt es wahnsinnige Reisepassagen Fieberträume Delirien über die Altstadt von Montevideo, über mexikanische Wüsten und Patagonia, die allesamt aus irren Bilden und Szenarien komponiert sind, die Traumbilder oder Filmbilder sein könnten, auf jeden Fall aber poetisch verdichtet und der Wirklichkeit fast immer entrückt...

 

Ganz anders im Roman EXIT.49, der auch ein großer BERLINroman ist, in dem das Kreuzberger Kottbusser Tor und Szenebars wie die Ankerklause, das Eschschloraque Rümpschrümp, der Würgeengel eine wichtige Rolle spielen.

 

Zweifellos. Da greift der Roman stilistisch als Roman, der im monologischen Umkreisen einer männlichen Existenz auch auf das Lebensumfeld des Protagonisten eingeht. Ein Lebensumfeld, das aus Berlinkreuzberg, Mitte, Marseille – aber eben auch aus Erinnerungen an große SüdamerikaReisen besteht, die seine Existenz neben den DINGEN DES LEBENS bestimmen.

 

4.

... die ich beim Lesen als paranoisch als auch sehr anarchisch empfunden habe, ganz ähnlich deiner dramatischen EXIT.49_lesung aus dem Jahre 2007 in der Volksbühne Berlin.

Deine meist als "Textsezierung" definierten Lesungen , die du seit Mitte der 90er Jahre als literarischen Pathos Transport zelebrierst, leben ja von einer speziellen inhärenten Dramatik,  was sicher auch DER Grund dafür ist, daß du als – relativ unbekannter - Autor schon 3x zu Gast in der Volksbühne warst, weil deine – pardon – Lesungen, schon weit über eine Lesung hinaus gehen. Wer dich während einer Lesung sieht, kann auch den Eindruck gewinnen, wie es in deinen Inszenierungen zugehen könnte, in der du in aller Regel auch als Darsteller teilnimmst. Also ich meine diese Überspitzung des Einfachen, die Übertreibungen und stimmlichen Veränderungen von Worten/Sätzen in der Verfielfachung.

 

Die meisten Lesungen sind bekanntlich ja wirklich langweilig. Eine Schande und eine Verhunzung eines Aktes, der eigentlich Kunst sein könnte, der Kunst sein sollte,  Vortragskunst jedenfalls.

Ich tue es mir längst nicht mehr an, zu Lesungen von KollegInnen zu gehen, wo AutorInnen lediglich ihr Buch vorstellen und oft selbst zu Beginn der Lesung noch nicht wissen, was sie lesen werden, was dafür zeugt, daß sie vollkommen unvorbereitet sind. Auch zu befreundeten Schriftstellern, die nicht lesen können, gehe ich nicht mehr, das tut wirklich weh. Und darüber hinaus halte ich diese Bemühungslosigkeit, das Abspulen von etwas, für eine Schweinerei dem Publikum gegenüber. Für meine feinen Ohren sind das STRAFEN, die ich niemanden mehr verzeihe. Man sollte solche AutorInnen bis zur Bewusstlosigkeit würgen, sie sofort niederapplaudieren oder Ihnen Auftrittsverbote erteilen, weil sie das Publikum im Grunde verarschen, weil sie das Publikum allein als Kaufmasse bzw als Huldigungsgruppierung für Ihren EGOtrip verstehen. 

 

Eine Lesung kann ja etwas ganz außerordentliches sein und wenn es dann doch nur eine Lesung ist, sollte sie wenigstens eine ausgezeichnete Lesung sein. Das ist das allermindeste, was ich von einem Autor erwarte, der sich als Lesender öffentlich präsentiert.

 

Was bedeutet in deinem Sinne ....TextSezierung?

 

Ich benutze diesen Begriff als selbstgewählten, womöglich sogar selbsterfundenen, ja schon seit Mitte der 90iger Jahre, weil ich die Bezeichnung „Leseperformance“ für nicht zureichend halte. Ich begreife den VortragsText idR nicht nur als Vorlesetext, sondern als offenen Körper, in dem auch herumgestochert werden darf, um mittels einer dramatischen Überbietung von Textschnitten eine ganz eigene Form auf dem Felde der Vortragskunst zu schaffen.  Die muss nicht zwingend nur aus Hurischreien oder kreischender Überbietung  bestehen, nein - das ist stimmliche Dramatik in allen Facetten und Ausuferungen.

 

5.

Okay .  Lass uns über deine Theaterarbeiten reden.

Da sind zum einen die drei großen mehrsprachigen INVASORinszenierungen:

2007 > LA NOTTE  nach den Orphischen Gesängen/Canti Orfici des italienischen Dichters Dino Campana

2008 > DIE OZEANISCHE NACHT–ein poetisches Drama, für dessen Textur DU paul m waschkau verantwortlich zeichnest 

& 2009 > EGO.TRAUM.KRYPSIS.3 # re.act.artaud – frei nach Antonin Artaud.

Allesamt Inszenierungen voller Irrender und Wirrender Gestalten, Traumlandschaften, einer unheimlichen Fülle an Poesie und poetischer... aber auch zutiefst verstörender Bilder... Fragmente von Erzählungen, die sich in schier surrealen ... eben nicht realistischen, die Realität abbildenden Bildern manifestieren... sonder... schockieren, widersprechen, widerlegen... verführen. Besonders in deiner letzten Inszenierung frei nach Artaud – EGO.TRAUM.KRYPSIS.3 # re.act Artaud stellst du mit einfachen und ebenso eindringlichen Mitteln, Bilder und Bezüge zum aktuellen weltpolitischen Geschehen her, die in ihrer Einfachheit UND Direktheit... und damit schon wieder in ihrer poetischen Kraft... zum Schauern bringen...

 

Und dies als Hinweis für unsere Hörer//Leser !

 Alle diese INVASORinszenierungen sind als FILMtrailer bei www.youtube.com/INVASORorg

sehbar & vermitteln dort in ihrer jeweils komprimierten Kurzfassung intensive Eindrücke.

 

6.

Und dann sind da mehrere Theaterstücke des Dramatikers paul m waschkau, dessen Uraufführungen in anderen Theatern stattfanden, wenn ich zb an den 2003 im ORPHtheater uraufgeführten Terror/KillerMonolog Hyänenherz/Traum eines Kamikazefliegers oder an das – schon erwähnte - 1998 im GARNtheater uraufgeführte Schauerfeldfragment DIE GALEERE DER KALTBLÜTER denke.

 

Ja. Ich fürchte, wir werden nicht über alles reden können. Obwohl ich selbst stets den Eindruck habe, nur schleppend und mit wenigem voranzukommen, türmt sich in einem 20 Jahre andauerndem Schaffenprozess doch einiges auf, über das ich mich gelegentlich selbst wundere. Und dann grabe und wühle ich in älteren Texturen und staune darüber, wie mir auf lange Zeit Unwichtiges, Liegengelassenes, Scheinbar-auf-der- Strecke-Verendetes auf einmal wieder wichtig wird und wie sich alles miteinander verzahnt.

 

Wie kommt es, daß trotz hoher sprachlicher und dramatischer Qualität - krasser Titel und Themen doch sehr selten Stücke vom vom Dramatiker paul m waschkau gespielt werden?

 

Nun. Das ist eine ganz zweischneidige Frage, die grundsätzlich etwas mit der öffentlichen Wahrnehmung zu tun hat, ich meine , wie man als Autor wahrgenommen wird. Eine Wahrnehmung die natürlich immer nur bedingt ist, egal wie berühmt oder unbekannt man ist, insofern man überhaupt öffentlich ist. Die immer von Macht und Kulturströmungen durchsetzt ist, von Finanzen der Theater, von Eingeschränktheiten Eingefahrenheiten Abgeschlossenheiten größerer Theater wie Theaterverlage und den Engen entscheidender Köpfe, dieser Gesamtheitsjury aus Lektoren, Regisseuren und Dramaturgen. Kurz gesagt: das komplette Betriebssystem „Kultur und Theater“ wird von enormen Ausschlussfunktionen und indirekter Unfreiheit beherrscht, von Ängsten und Konkurrenzkämpfen und nicht zuletzt von Beziehungen und zwar in allen möglichen Konstellationen sowohl an großen und kleinen Häusern. Und natürlich spielen auch Faulheiten, Fähigkeiten wie Unfähigkeiten verbunden mit einem ganz offenen Entdeckungswillen eine wahnsinnig wichtige Rolle, dafür, ob man einen Dramatiker präsentiert, der nicht in die Schublade üblicher EinheitsDramatik passt.

 

Über den 2003 im ehemaligen ORPHtheater uraufgeführten Killer/Terror_monolog Hyänenherz/Traum eines Kamikazefliegers in der Regie von Hans-Weerner kroesinger gab es – nicht nur im Jubel – sondern auch in der Analyse ganz hervorragende Kritiken.

 

Ja, das stimmt und zeigte auf ausgezeichnete Weise, wie sehr auch das Publikum der OFFszene nach krassen Themen giert, die natürlich auch beeindruckend umgesetzt werden müssen. Überhaupt kann man im OFFbereich künstlerisch nur mit NEUEM AUSSERGEWÖHNLICHEM EINZIGARTIGEM gewinnen, niemals aber mit Stücken von Nobelpreisträgerinnen, Klassikern und dem fast zum Dauerbrenner avancierten Heiner Müller.

 

Das Dilemma ist ja, dass die meisten im Zu Wenig aufhören und sich nicht um eine verzweifelte Fortsetzung bemühen.  Ja nicht einmal bis an die eigene Grenzen gehen. Die letzte Nackt­heit nicht anstreben. Das Unmögliche NIE wagen. Vor dem Unmöglichen sogar Angst haben.

 

Aber gerade das Unmögliche muß nicht nur angekratzt werden sondern gefordert. Sonst sollte man eigentlich einpacken.

 

Wir präsentieren einfach mal die Kurzzusammenfassung des TerrorMonologes „Hyänenherz“.

BRUTUS, ein in die Gegenwart hineingeschleu­derter Toter der Geschich­te, ein mit der Poesie eines or­phischen Dichters um­mantelter Killer, Blutpumpe des organisierten Mor­des, berei­tet sich auf seinen näch­sten Auf­trag vor. Obwohl ihm die Lust am Tö­ten längst vergangen ist, begreift er seinen Job als eine Arbeit, die erle­digt werden muss. In den stets einbrechenden Erinnerun­gen an ferne Liebschaf­ten, die ihm gleich poeti­schen Traumse­quenzen wie Visio­nen ver­passten Glücks erscheinen, schält sich seine Sehn­sucht nach einem anderen Leben heraus.  --- Wenn seine Zeit gekommen ist, wird er aufblitzen.

 

Das im Jahre 2000 in der Einöde einer Schöppinger Kunststiftung erschriebene Hyänenherz wie DIE GALEERE DER KALTBLÜTER sind Stücke, die in ihrer poetischen Schaurigkeit und Dramatik nichts an Aktualität eingebüßt haben, gerade weil sie von einer gewissen Zeitlosigkeit beherrscht werden.

 

Hyänenherz könnte  m.E an jedem Theater der Welt gespielt werden und würde sicher überall verstanden, wo es Gesellschaftskonflikte gibt. Es ist trotz klug gesetzter metaphorischer politischer Bezüge auch ein sehr poetischer Text.

 

Ja ja . Dieser Killer, der seinen Job hasst, wie andere ihren Job hassen, ist ja fast ein Dichter, der darüber hinaus Aussagen trifft, was Glück im Leben bedeutet und wie man es erlangen könnte und da wird es dann in der Düsterkeit der Seele auch sehr heiter.

 

Es soll sogar eine englische Version geben.

 

Ja, das stimmt. Übersetzt von der neuseeländischen Übersetzerin Joy Titheridge, eine Version, die ganz hervorragend sein soll, wie mir englischsprachige Kollegen versichert haben.

 

Und dann ist da dieser Satz... Diese Bemerkung des Killers...

die wie eine Arbeits- & Lebensmaxime rüberkommt.

 

Welche?

 

Die Frage ist nicht wie weit man gehen will  Die Frage ist, bin ich in der Lage soweit zu gehen wie man gehen muss.

 

Pardon. Das muss man natürlich in sich zergehen lassen. Darauf muss man rumkauen.

 

Die Frage ist

nicht wie weit man gehen will

Die Frage ist,

bin ich in der Lage soweit zu gehen

wie man gehen muss.

 

 

7.

Okay. Wir könnten jetzt natürlich ÜBER WOYCEKS IN NEUKÖLLN sprechen. Über die Serie NEUE STÜCKE VOM RANDE DER WELT, die du am Schauspiel Neuköln 2006/2007 initiiert und geleitet hast. Aber kommen wir zurück zu INVASOR. Was ist – aus deiner Sicht -  das Besondere an der theatralen FORMATION INVASOR?

 

Einiges klang in der Vorstellung der Stücke ja schon an,

aber grundsätzlich sehe ich...

Einen Reichtum durch Mehrsprachigkeit

Eine ungewöhnlich starke Sprache

aufgrund wahnsinniger Poesien

Die Stellung fremdsprachiger Schauspielerinnen

Der Zusammenprall unterschiedlicher Kulturen

Die Auflösung von Nähe und Distanz im Atmosphärischen

einer Aufführung

Der Reichtum in der Armut

Die Liebe zum Theater mittels des Widerspruchs zum Theater

 

Arbeitest du als Regisseur/Theatermacher autonom oder hast du Vorbilder? 

 

Damit kann ich eigentlich wenig anfangen. Oder die Antwort wäre ein so weites Feld, daß ich von hier aus weder das Ende sehen, noch seine Verzweigungen in seiner Gänze erfassen könnte. Im Grunde reden wir ja schon darüber, auch wenn dies immer nur ein Bruchteil von allem sein kann. Und vielleicht ist das, was aufblitzt, gar nicht das Wesentliche. Nun.

 

Gib es Regie-/Theaterstile, von denen du
dich ganz bewusst abgrenzen möchtest?

 

Nein. Und im übrigen weiß ich gar nichts über meinen Regiestil. Bezeichne mich ja höchst ungern als Regisseur, spreche lieber von Inszenierungen, weil ich mich eher als einer verstehe, der etwas In-Szene setzt, ähnlich der Französischen „mise en scene“.

Bin einer, der im Probenprozess szenische Ansätze sammelt, sie in einer Art konzentrischer Stauung ballt, um sie dann ausfließen zu lassen.

Das hängt damit zusammen, daß ich die Kunst des Schauspielers, die unbedingt Kunst sein muss,  nicht nur schätze sondern erwarte. Damit meine ich,  daß sich der Schauspieler für seine Rolle ein eigenes Ideenfeld entwickeln und erarbeiten muss. Nichts ist im Arbeitsprozess langweiliger, als wenn am Ende eines oft mehrwöchigen Probenprozesses ein Darsteller bis in die kleinste Bewegung hinein nur das zeigt, was ihm der Regisseur vorschlug, weil vom Schauspieler nichts kam, als die sklavische Zur-Verfügung-Stellung des Körpers oder der Stimme.

Das ist im übrigen für den Schauspieler idR ebenso langweilig, weil der Schauspieler, der sich nur als Erfüllungsgehilfe einer RegieIdee sieht, seinen Beitrag ja nicht als Kunst d.h. als Kür sondern nur als Pflicht sehen kann. Und da heraus entsteht Unzufriedenheit .

 

Wie entsteht die Idee zu einer Inszenierung?

 

Oftmals sind es nur Sätze. Unglaubliche poetische Sätze.

So wie Anete Colacioppo in LA NOTTE – den Dichter Dino Cmapana charakterisierend - kreischt:

Er schreibt Sätze. Er schreibt unglaubliche Sätze.

Und bei Dino Campana, diesem schrägen Italienischen Dichter, der im übrigen

wie Artaud mehrere Jahre in eine IRRENanstalt eingesperrt war

und da erkennt man die zusammenhängenden Strömunungen meiner dichterischen Welt...

Also in Dino Campanas ORPHISCHEN GESÄNGE kommt folgender Satz vor:

„In der Folter des Schlafs den gehärteten Körper enthüllen...“

„Nella tortura dell sogno scoprire il corpo vulcanizzato...“

 

Und um solch unglaublichen Satz baut sich bei mir eine ganze Inszenierung auf. Ergänzt durch surreale Bildsätze wie...

„Der Liebhaber im Halbschatten krallt am Gesicht der Geliebten sich fest, um ihren Traum zu entfleischen.“

 

DAS SIND WAHNSINNIGE BILDER, große Gemälde, ganze Szenarien, die in den Sätzen nicht nur des Dichters Dino Campanas stecken. Sätze, die einem , wenn man sie einmal erfasst und gefressen hat, eine Welt offenbaren, die zumindest mir wie ein Märchen erscheint, wie ein poetisches Märchen.  Und überhaupt kommt es mir ja darauf an, POESIE ins Theater zu transportieren. Orphische Dichtung, daher die als ORPHISCHER ZYKLUS angekündigte Serie... postdramatischer Variationen.

8.

Und bei Artaud?

 

Ja auch hier - Sätze. Sätze, die aber auf krasse Weise sehr oft und eindringlich den politischen Körper umkreisen. Wie bei Artaud der Körper mit all seinen Funktionen, Flüssigkeiten und Bezügen enorm wichtig ist für sein komplettes Denken. Und der Satz, der in aller Knappheit, das menschliche Schicksal festnagelt, ist jener, den wir in der Inszenierung von EGO.TRAUM.KRYPSIS.3 benutzt haben.

 

>Die Wesen sind inmitten einer Schlacht geboren worden,

die sie niemals verstehen wollten,

die sie gehasst und beneidet haben und das ist alles.<

 

Genau. Aber dann ist da diese besondere Sache mit Artaud.  Daß du mit ihm kompromisslos umgehen kannst.  Dass du dich nicht beschränken musst. Daß du dich nicht darum kümmern, was auf der Bühne erlaubt ist und was nicht erlaubt ist. Dass du BANALES BRACHIALES & SCHÖNES mit einander verbinden kannst. Dass du am Ende nur aufpassen musst, nicht zu sanft zu sein. Denn Artaud ist immer sehr hart gewesen – gegen sich und gegen andere.

 

Aber die WIDERSTÄNDE, die ihm selbst heute noch - sogar an einem Ort wie der theaterkapelle - entgegengebracht werden, sind unglaubliche Widerstände, die ich eigentlich nicht begreife...  Aber gerade das zeigt, daß ARTAUD noch immer ein Aufwühlender ist, ein fremder Geist, der eine immense unterschwellig vorhandene Kritik gegen alles Blasse, Eingefahrene, Gemütliche mit sich bringt, wogegen sich dann die, die sich in ihrer Gemütlichkeit eingerichtet haben, alles, was sie noch an Kraft haben, aufwenden, damit sie nicht gestört werden. Vor dem dann selbst sich ach so kritisch Wähnende ANGST haben. Die Leute wehren sich gegen diese Strömungen, die sie spüren lassen wie banal sie sich bewegen. Sie wehren sich gegen Artaud und sie wehren gegen seine Freunde.

 

Selbst Heiner Müller schreibt, daß Artaud der Ernstfall sei. Ernstfall der Literatur und des Theaters. Sprache des Schmerzes, des Schreis, des Fleisches, des Nichts. Grenze zwischen Poesie Genie und Wahnsinn.

 

Ja selbst für Müller war Artaud anstrengend. Man merkt das daran, daß die Artaud_Passage bei Müller äußerst knapp ausfällt. Aber ich bin d’accord mit Müller. Auch daß Artauds Schrei immer ein Schrei des Körpers sei, der Schrei eines Geschändeten, der exemplarisch für alle Schändungen steht, die tagtäglich unter der Folter der Sonne geschehen. Aber um sich darauf einzulassen, braucht es schon eine ganz enorme Kraft.

 

Wie überhaupt bist du zu Artaud gekommen?

Wie bist du zum Theater gekommen?

Wie bist du zur Dramatik und zur Literatur gekommen?

 

Oh Gott. Das ist natürlich eine lange Geschichte und wie vieles ein Prozess, ein Fluss, in den man hineinsteigt, und von dem man sich treiben lässt.  Was Artaud betrifft geht dem eine wirklich sagenhaft lange Beschäftigung voraus, die vermutlich nie aufhören wird. Und diese Beschäftigung war zunächst eine Konfrontation als Zuschauer. Ende der 80iger jahre West-Berlin  Man darf nicht vergessen, daß das OFFtheater eine Geschchte hat. Und was für eine Geschichte. Es ist eine Geschichte, die untergründig wirkt. Die in ihrer Vielfalt und in ihrem Einfluss unterschwellig wie ein Vulkan brodelt, der von Zeit zu Zeit ausbricht und seine Lava ausspeit.

 

Erwähnen möchte ich:

>>> Das Theater Antonin Artaud  geleitet von Susanne Husemann, Jean Marie Bovin

>>> Das Theater 100fleck von/mit  Dieter Kölsch & sein Ziguri Ego Zoo in den 90igern ...“

>>> Natürlich das ORPH.THEATER & zuletzt das unglaubliche RAMM/ZATA, wo übrigens aufgrund einer Einladung des RAMM um Arthur Kuggelyn 1990 meine 1.Theaterarbeit des Brachialstückes KERKER , eine Henkersmahlzeit lief, eine Essenz meines „stückes für apokalyptische theater TRAKT“.

                           

Als ich 1996 dann selbst zum Artaud Kongress ins damals noch sehr lebendige wichtige TACHELES eingeladen wurde, war das eine echte Ehre, auf einem Kongress mit Dieter Kölsch aufzutreten.

 

9.

In der Ozeanischen Nacht, die 2008 zur UA kam, und die eher deine eigene Textur ist, auch wenn sie von anderen DichterInnen wie Rilke, Sarréra, Rimbaud bereichert wurde, erschienen mir die schrägen MiniMonologe einer verirrten 100jährigen Prinzessin aus dem romantischen fragment archangelsk/träume aus titan als sehr prägend.

 

...Monologe, die Edyta Jaworska mit einer unglaublichen Stimme bewältigte, die wir zusammen erst erfinden mussten. Eine Urgewalt an Stimme, die da in die Welt platzte. Fast unerträglich für den Zuschauer – aber ein exaktes notwendiges Extrem.

 

Die 100jährige kam mir immer wie eine Art Kassandra vor, die...

 

Das ist sie auch. Eine große Weise und daher eine große Warnerin. Sie warnt aber nicht nur vor Szenarien, die einen offensichtlichen Weltuntergang beschleunigen, sondern sie warnt vor Menschenzüchtern....  Sie warnt vor Lügenpriestern in Zeitungen...

Sie warnt vor den Eroberungen der Himmelsstürmer. Und im übrigen warnt sie auch vor dem Verlust der sinnlichen Lust.

 

Die Ozeanische Nacht war für mich das exemplarische Beispiel einer mehrsprachig poetischen Inszenierung, die man sicher als das bezeichnen kann, was man neutheoretisch „postdramatisch“ nennt.

 

Ich denke, daß das auch schon in LA NOTTE der Fall war, wo italienisch wie portugiesisch bereits einen hohen Sprachanteil hatten.

 

In der Ozeanischen Nacht war das durch den schwarzhäutigen Zé de Paiva auch sichtbar und gewann dadurch an Exotik, die aber nicht allein zur Schau gestellt wurde. Die Sichtbarkeit der Fremdheit deutete vielmehr auf eine raummäßige Entrücktheit, auf eine Spielzone, die jedem sofort klar macht, daß wir uns außerhalb des Realen befinden. In einem Märchen, in einem Traum, in einer poetischen Welt, aus der die fremden Sprachen wie Musik zu uns herüberklingen, die wir in ihren besten Momenten trotzdem verstehen, auch wenn wir die Sprache inhaltlich nicht verstehen. Dafür waren und sind aber ebenso von großer Bedeutung die Soundlandschaften von Alexander Christou und Anna Mandel wie Georg Wahnfrieds karge Bühneneinrichtung und die düstere farbig wie punktuelle Lichtästhetik.

 

Eigentlich wird in der OZNA ein titanischer Traum gespielt, der sich in LA NOTTE schon angekündigt. Die Brasilianerin Simone Donha machte das dort – wie ich finde - auf ihre zart-sprechende Weise ganz wunderbar.

 

Ja, Simone Donha ist geradezu prädestiniert für die SchlussWorte.

 

In der Ferne sieht man, wie der Dichter verschwindet. Man sieht wie er reitet und reitet.

Und er reitet noch immer. Auf der Suche nach seiner Passage zum Glück. Auf der Suche

nach echten Frauen und Männern, weibisch und arbeitssam. Auf der Suche nach dem Traum aus Titan.“

 

So endet LA NOTTE mit einem kleinen pmw_Einschub textuell. Und in der OzNa kommt er dann wieder, der reitende Dichter

Mit dem Beginn der 1.Duiniser Elegie von Rilke...  Rilke auf deutsch natürlich, doch auch auf portugiesisch durch den vom teatro officina Sao Paolo kommenden Darsteller/Tänzer Zé de Paiva.

 

„Wer wenn ich schriee, hörte mich denn aus der Engel Ordnungen. Und gesetzt selbst,

es nähme mich einer plötzlich ans Herz, ich verginge von seinem stärkeren Dasein.

Denn das Schöne ist nichts als das Schrecklichen Anfang.“

 

In der Ozeanischen Nacht ziemlich pathetisch vorgetragen...

 

Ja, das würde ich heute auch sagen. Sehr sehr pathetisch und sehr sehr überzogen, aber notwendig wie stimmig mit dem als Einlass präsentierten Sturm von Anna Mandel, der im Grunde schon vorweg die ganze Brüchigkeit des Schönen ankündigt, die wir in Form der Engelsinsel sehen, mit schönen Frauen und Männern, die sich gegenseitig anschmachten und verachten.

 

In den letzten INVASORinszenierungen war - wenn auch nie wirklich nackt –

doch stets sehr viel Fleisch zu sehen. Männern wie Frauen oft sehr lange leichtbekleidet.

Wie steht INVASOR zur Nacktheit auf der Bühne?

 

M.E. war das in den 3 Inszenierungen inhärant auch notwendig, und stand im Ensemble eigentlich auch nie zur Debatte. Das schwül heisse SommerGefühl in LA NOTTE wie in der OzNa – übrigens im Winter in einer meist kalten tk gespielt – hätten wir nicht in Wintermänteln transportieren können. Noch archaischer in re.act.Artaud – wo mir Körper, die offensichtlich Schmerzen ertragen müssen , absolut notwendig erschienen.

Das Interessante ist m.E. ja nie die Nacktheit. Die pure Nacktheit auf der Bühne ist langweilig. Aber das Geheimnis der Nacktheit,

also eine, die andeutungsweise vorhanden ist oder sich als mögliche Nacktheit andeutet, ist auch ein Spiel  mit dem Begehren im Schauen -  also Erotik.

 

10.

Dann wäre da aber noch die Frage...  Aus- oder Anziehen

 

Wer sich erst mal ausgezogen und nackt gezeigt hat, hat sein Potential verspielt. Darf sich nicht mehr anziehen. Daher Umziehen.

Oder wie in EGO.TRAUM.KRYPSIS.3. im BLACK nackt beginnen und dann anziehen.

 

Wo liegen für dich  die Grenzen?

Was würde du nicht auf der Bühne zeigen wollen?

 

Schwer zu sagen. Schon alles real gezeigte, alles was den Anschein von Realität, von Alltäglichkeit hat, würde ich ungern zeigen wollen. Also alles was geheimnislos ist, alles, was kunstlos ist sowieso. Und kunstlos ist natürlich auch der durchscheinende Slip unter einem Unterkleid. Der sichtbare Slip zeigte in diesem Falle die Realität, und zerstörte das Geheimnis der Nacktheit, die meist nicht wirklich erkennbar ist. 

Natürlich auch „Kunstlose Sprache“ obwohl und das erstaunt mich  - Autor Dramatiker – selbst, Sprache in INVASORinszenierungen  mehr und mehr verschwindet. Sie wird trotzdem wichtig bleiben, nicht immer als Inhalt sondern als Grund.

 

"Wir verlangen dem Publikum eine heroische Haltung ab!"

steht auf www.INVASOR.org und meist auch in den Programmheften.

Kann du diese  Forderung bitte näher erläutern!? Siehst du das heutige Theaterpublikum in einer potentiellen Opferrolle, aus der du es  befreien möchtest? Fordert/Fördert INVASOR mehr geistige Aktivität des Publikums - vielleicht eine gewisse Eigendynamik, ein Selbstbewusstsein des Publikums?
 

Ja. Nein. Ich hatte immer das Gefühl, das Publikum, das nie oder höchst selten ins Theater geht, sich beim INVASOR sehr wohl fühlte, weil es da Dinge zu sehen zu fühlen zu spüren zu hören gibt/gab, die es anderswo nicht gibt, was Bilder Stimmungen Atmosphären betrifft. Das ist manchmal schon filmisch. In LA NOTTE gab es ZuschauerInnen, die sich gefürchtet bzw. vor Schauer gegruselt haben sollen.

 

Nein die Heroische Haltung, die wir dem Publikum abverlangen, ist, sich auf diese Reise ans Ufer anderer fremder Stimmungen und Atmosphären einzulassen. Und das hieß im Falle von LA NOTTE auch zu ertragen, daß die ersten gefühlten 22 Minuten nahezu nichts geschah, dies aber auf höchstem ästhetischen Niveau.

 

Es fällt auf, daß du dich den üblicherweise mitgelieferten Untertitelungen verweigerst. Andererseits habe ich den Eindruck,

daß es dieser Untertitelungen gar nicht bedarf, weil die meisten mehrsprachig Textpassagen gedoppelt sind.

 

Exakt. Im Idealfall bemerkt dies der Zuschauer aufgrund ansatzweise ähnlicher Szenarien oder im ähnlichen gesprochenen Gestus. Oder durch den Transport atmosphärischen Gefühls und bekommt ein Gespür dafür, daß er das, was er gerade auf italienisch hört, entweder inhaltlich spürt oder auf deutsch schon mal gehört hat. Wenn er das als Zuschauer einmal kapiert hat, muß er sich um die fremden Sprachen, die er nicht versteht, gar nicht mehr sorgen, sondern kann sie in Ihrer Fremdheit genießen. Er hat am Ende bestenfalls sogar das Gefühl, auch die ihm fremden Sprachen inhaltlich verstanden zu haben, ohne durch eine 1:1 Übersetzung belehrt worden zu sein.

 

Ich wollte das von Anfang nicht, auch deshalb nicht, weil man sonst zu 88% der Zeit auf die Unter- bzw. Übertitelung starrt.

 

Was hat dich überhaupt gereizt, mehrsprachig zu inszenieren?

 

Zum einen bin ich natürlich nicht der erste und nicht der letzte. Dann ist da aber diese meine Affinität zu anderen Sprachen, Poesien und Menschen aus fernen Ländern, die in der Stadt Berlin, in der ich lebe, sehr präsent sind, aber sehr selten hörbar in einer speziellen poetischen Kombination mit der Poesie des Deutschen. Und die Chance, daß wir hier großartige DarstellerInnen in ihrer Sprache hören können, ist doch ein wunderbares Geschenk, das man eigentlich nur richtig auspacken bzw. einpacken muss.

Auch war ich selbst in der Villa dei Misteri–Inszenierung von Ivan Stanev in den Sophiensälen und großen Theatern in Frankreich als Darsteller beteiligt, wo ich neben großartigen italienischen, französischen, russischen wie amerikanischen Kolleginnen nicht nur deutsch sondern auch französisch und sogar altgriechisch sprach. Allerdings war die Inszenierung in ihren nicht-deutschen Ausuferungen von Übertitelungen begleitet.

 

Ja, und was soll das überhaupt, diese ständige Verstehens-Wut. ... es geht doch um das sinnliche Erfassen eines Textes... oder Textmaterials... und dann als Zuschauer die sinnliche Gesamterfassung oder besser das Erleben eines Raumes-Bildes- und ganz besonders in Hinblick auf die gesprochene Sprache, ob nun deutsch, Französisch, Italienisch oder Brasilianisch, wo doch ganz besonders das Brasiliansiche diesen mE außerordentlichen wundervollen  Klang hat... Sprache ist Klang...Musik.

 

11.

Dir bekannte Kollegen fangen ja inzwischen an, prahlerisch damit anzugeben, daß bei Ihnen nun auch italienisch gesprochen würde.

 

Nur das allein reicht – aus meiner Sicht - natürlich nicht. Denn wenn man als Regisseur die anderen Sprachen weder ansatzweise spricht noch ein Gespür für die fremde Sprache hat, führt es mE sogar ins genaue Gegenteil. Es fehlt einem die Möglichkeit, die Sprache zu kitzeln, sie an bestimmten Marken ihrer Töne und Aussagen hochzuzwirbeln. Wenn man damit nicht umgehen kann, kann ein fremde Sprache der Inszenierung schaden, weil sie wie ein Nichts nur Unverständnis und damit distanzierte Fremdheit erzeugt.

 

Welche Stücke hast du zuletzt im Theater gesehen und welches hat dir von der Inszenierung her

am besten/oder gar nicht gefallen?
 

Ich denke eher an Inszenierungen, bei denen es mir kalt den Rücken runterlief, übrigens ein Gefühl, das mir als Beweis für höchste Ästhetik gilt und die es daher in meine TOP TEN geschafft haben. Leider sind die Stücke nicht wie Filme wiedersehbar, das ist das Bedauerliche an Theater und das Schöne, die Vergänglichkeit. Man sollte den Vorteil der Vergänglichkeit des Theaters nicht unterschätzen.

Also!

Zum einen die Medea von Hans Henny Jahn aufgeführt vom Berliner Walserensemble ca. 1988 im Theater Zerbrochene Fenster,  mit einer damals unglaublichen Teresa Harder in der Regie von Ulrich Simontowitz.

Das 2001 aufgeführte Medea.Material von Heiner Müller mit einer unglaublichen Antje Görner im ORPHtheater unter der Regie von Susanne Truckenbrodt. Und auch Susanne Truckenbrodts Inszenierung von Müllers Bildbeschreibung, im Schloss Bröllin 2003. Das Wunder eines Abends - unwiederholbar, mit Uwe Schmieder in der Hauptrolle.

Und zuletzt – relativ zeitnah – war da RESIDUA von Beckett, genial inszeniert von Oliver Sturm 2006 in den Sophiensälen. Und leider leider dann unglaublich unerträglich abscheulich belanglos vom gleichen Regisseur Sturm die Inszenierung NICO in der Stückfassung von Werner Fritsch 2008 in den Sophiensälen ...  ein schmerzensgeldverdächtiges NICHTS!

 

Wenn du dir für deine nächste Inszenierung einen Ort in Berlin aussuchen könnten,

welchen würdest du wählen?
 

Es gibt zum Glück noch einige außergewöhnliche Orte und Räume. Aber der Festsaal in den Sophiensälen reizte mich schon sehr. Er ist in seiner historischen Kaputtheit und Zeitlosigkeit fast ein idealer Spielort im Sinne der letzten 3 INVASORinszenierungen. Allerdings müssen die Umstände im Ganzen stimmen, der Ort allein machts ja noch nicht.

 

Ein gutes Schlusswort. Jedenfalls sind wir irgendwie am Ende unserer Zeit.

Wie spät ist es jetzt?

 

Sehr sehr spät.

 

Und wie weit ist es jetzt?

 

Sehr sehr weit.

 

Okay. Dann bedanken wir uns für das Gespräch in der Serie: DIE VERHÖRE DES INVASOR

mit dem Autor/Dramatiker und Theatermacher paul m waschkau

 

Ich bedanke mich auch.

 

Das komplette NACHTFLUGprogramm sowie mehr Informationen über INVASOR oder paul m waschkau

findet man auf www.INVASOR.org . Die eingespielten Sounds stammen aus dem Werk

„Der Schmerz ist überall“  von der Formation „Why you?“ , die in der kompletten nächsten Stunde zu hören sein wird.

 

Damit verabschiedet sich der NACHTFLUG INVASOR

mit Anne Rechlin, Friederike Biebl

sowie paul m waschkau

 

Heraus aus der ersten Stunde

hinein in die zweite Sunde.

 

Eingeschlossen in die Zeit

In den Augenblick

In das Pochen des Blutes

 

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